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eder Schritt bedeutete neuen Schmerz, der EnricoTränen in die Augen trieb. Und das, obwohl sein Vater und Francesco sich alle Mühe gaben, ihn zu stützen. Was gleichzeitig bedeutete, daß sie nur sehr langsam vorankamen. Die schwarzgekleideten Verfolger, die sich ein paar hundert Meter hinter ihnen den Felshang heraufarbeiteten, waren bereits deutlich zu erkennen. Enrico hatte an die zwanzig von ihnen gezählt, aber es mochten auch mehr sein.
Noch ein Schritt, und Enrico war, als schnitten Dutzende von Rasierklingen in seinen Fuß. Die Sinne drohten ihm zu schwinden vor Schmerz, und auch seine beiden Helfer konnten ihn in diesem Augenblick nicht halten. Er fiel zu Boden und war beinahe dankbar dafür, nicht länger stehen zu müssen.
»Es hat keinen Zweck, ich halte euch nur auf«, stöhnte er. »Ihr müßt mich zurücklassen, nur dann habt ihr eine Chance!«
Elena zeigte ihm einen Vogel. »Sollen wir dich diesem durchgedrehten Ordensgeneral überlassen? Kommt nicht in Frage!«
»Ihr könntet Hilfe schicken, wenn ihr durchkommt. Wenn wir alle vier eingefangen werden, hat niemand etwas davon außer denen da.« Enrico zeigte in Richtung der Verfolger, die immer näher kamen. »Francesco könnte mir seine Pistole dalassen. Vielleicht gelingt es mir, die Kerle damit eine Weile aufzuhalten und euch einen Vorsprung zu verschaffen.«
»So etwas klappt nur im Western«, widersprach Elena. »Du bist Rechtsanwalt und nicht der Marshal von Dodge City!«
»Ganz recht«, sagte eine hohe Stimme in ihrem Rücken, die alle vier zusammenfahren ließ. »Eine kluge Frau, auf die du hören solltest, du Held!«
Ein Totus-Tuus-Mann von gedrungener Gestalt stand ungefähr zwanzig Meter entfernt auf einem Felsen und zielte mit einer Maschinenpistole auf sie. Erst auf den zweiten Blick erkannte Enrico den Mann, den er wochenlang nur in Mönchskutte gesehen hatte.
»Ich dachte mir, ich schneide euch den Weg ab, und es hat tatsächlich geklappt«, erklärte Giuseppe hämisch. »Der Verräter wirft jetzt besser seine Waffe weg, sonst seid ihr alle tot!«
Unendlich langsam, wie es Enrico schien, öffnete Francesco die Pistolentasche an seiner Hüfte, und zog die Automatik. Aber er warf sie keineswegs weg, sondern legte auf Giuseppe an, so ruhig, als hätte er alle Zeit der Welt.
»Nicht!« rief Lucius und schlug Francescos Arm
nach unten. »Töten ist kein Ausweg!«
Trotzdem krachte ein Schuß, und mitten auf Giuseppes Stirn klaffte
ein obszönes rotes Loch. Der Totus-Tuus-Offizier schien noch etwas
sagen zu wollen, brachte aber nur ein Gurgeln hervor. Er sackte
zusammen und rutschte von dem halbrunden Felsen.
Der Mann, der ihn erschossen hatte, kam zwischen den Felsen auf sie
zu, und Enrico glaubte sich und die anderen schon gerettet, denn er
erkannte die dunkle Alltagsuniform der Schweizergarde. Aber der
Gardist machte einen angeschlagenen Eindruck; um seine linke
Schulter war ein behelfsmäßiger Verband gewikkelt, und er schien
allein zu sein.
Als er sie erreicht hatte, steckte er seine Dienstwaffe in die
Pistolentasche und salutierte vor Lucius. »Gardeadjutant Kübler
erwartet Ihre Befehle, Heiliger Vater!«
Lucius war verblüfft. »Gott sei gepriesen dafür, daß Sie leben!
Ihre Kameraden hatten leider nicht so viel Glück. Wie sind Sie aus
dem Kloster entkommen?«
»Entkommen ist der falsche Ausdruck, Eure
Heiligkeit. Ich bin beim Kloster über den Rand des Hochplateaus
gestürzt. Daß ich überlebt habe, grenzt wohl – Verzeihung – an ein
Wunder. Ich kann selbst nicht genau sagen, wie. Als ich wieder zu
mir kam, hing ich ein gutes Stück unterhalb des Klosters in einer
Baumkrone. Da ich im Kloster den Feind wußte, habe ich den Weg nach
unten eingeschlagen, um irgendwo Hilfe zu holen. Leider ist mein
Handy wohl bei dem Sturz kaputtgegangen, so daß ich auf diesem Weg
keinen Alarm geben konnte. Was soll ich sagen, ich habe mich in
dieser Einöde verlaufen. Die Nacht habe ich in einer kleinen Höhle
verbracht. Heute bin ich den ganzen Tag herumgeirrt, und dann habe
ich den Mann in der seltsamen Uniform gesehen und einen der Mönche
aus San Gervasio in ihm erkannt. Ich bin ihm gefolgt, und er hat
mich zu Ihnen geführt.«
»Das ist ja eine regelrechte Odyssee«, sagte Enrico. »Und es zeigt
uns, daß wir nicht weit von San Gervasio entfernt sein können.«
Bekümmert blickte er auf seinen schmerzenden Fuß. »Allerdings wohl
zu weit für einen Quasi-Einbeinigen.« Der Schweizer sah prüfend zu
den Totus-Tuus-Männern, die sich eifrig zu ihnen vorarbeiteten.
»Ich werde mir die Maschinenpistole von dem Toten holen. Damit kann
ich die da eine Weile aufhalten. Ein paar von ihnen werden sicher
ins Gras beißen, und das wird ihren Eifer bremsen.«
»Nein!« sagte Lucius mit ungewohnter Härte. »Heute sind schon zwei
Menschen gestorben, es sollten nicht noch mehr werden.«
Kübler zeigte entsetzt auf die Verfolger. »Aber die haben uns bald
erreicht, und dann werden sie uns einkesseln!«
»Vielleicht finden wir einen anderen Weg, sie aufzuhalten«, sagte
Lucius leise und sah seinen Sohn an. »Mit unseren besonderen
Kräften, Enrico.«
»Was meinst du, Vater?«
»Du kannst Dinge aus der Vergangenheit sehen, aber du kannst auch
bewirken, daß andere Menschen Dinge sehen. Wir sollten uns auf die
Männer dort und auf die Felsen konzentrieren.«
Lucius blickte starr geradeaus, den Verfolgern entgegen; er wirkte
mit einem Mal völlig entrückt. Enrico spürte, wie sich in seinem
Kopf ein Bild formte: Felsen, die sich von den Hängen lösten und
eine Lawine in Gang setzten. Da verstand er, was sein Vater gesagt
hatte, und begann sich gleichfalls ganz darauf zu konzentrieren.
Seine Gedanken und die von Lucius verschmolzen miteinander und
erzeugten das Bild herabstürzender Felsen, die, umgeben von einer
gigantischen Staubwolke, auf die Totus-Tuus-Männer
zurollten.
Auch die Verfolger sahen die Lawine, die allein den Gedanken von
Lucius und Enrico entsprang. Sie empfanden sie als höchst real,
lebensgefährlich, und ergriffen in Panik die Flucht. Gegen Menschen
konnte man kämpfen, aber nicht gegen eine Steinlawine.
Die geistige Anstrengung nahm Enrico sehr mit. Als die
Totus-Tuus-Männer außer Sichtweite waren, lehnte er sich gegen
einen Felsen und schloß die Augen. Das Bild der Lawine verschwand
aus seinem Kopf, aber dafür kamen andere und beschäftigten seinen
angespannten Verstand, Bilder aus der Vergangenheit …
Die Hitze an dem großen Schlund im Tempel der Ahnen wurde unerträglich, und Vel wollten die Sinne schwinden, aber Larthis Nähe gab ihm Kraft. Sie sprach zu ihm, auch wenn sie die Lippen nicht bewegte. Ihre Worte waren in seinem Kopf: Wir müssen so tun, als machten wir mit Larth gemeinsame Sache. Aber wenn er und die bösen Geister, die hier in der Erde schlafen, sich ihres Sieges sicher sind, müssen wir den rechten Augenblick abpassen und sie vernichten.
Vel verstand sie, aber eine tiefe Furcht ergriff ihn. Die Geister der Ahnen sind mächtig. Selbst wenn wir den Kampf gewinnen, kann das unseren Tod bedeuten.
Larthi sah ihn an und lächelte. Vielleicht liegt in unserem Tod der Sieg, Liebster. Wenn das so ist, dürfen wir den Preis nicht scheuen. Aber vielleicht stehen uns diejenigen unter den Ahnen, die schon einmal gegen das Böse gekämpft haben, bei. Wie es auch sei, wir müssen unser Volk vor der Herrschaft der Geflügelten und einem mörderischen Krieg bewahren. Willst du den Weg, auch wenn er beschwerlich ist, mit mir gehen?
Vel erwiderte ihr Lächeln. Ich gehe jeden Weg, wenn es der deinige
ist.
Vel und Larthi umarmten einander, vereinigten ihre Kräfte, und die
Macht der Ahnen entfaltete sich …
Enrico las im Gesicht seines Vaters, daß dieser seine Vision oder Erinnerung geteilt hatte. Sie wußten jetzt, was zweitausend Jahre zuvor im Tempel der Ahnen geschehen war. Vel und Larthi hatten ihnen den Weg gewiesen. Stumm verständigten Vater und Sohn sich darüber, daß sie es den beiden gleichtun wollten.
Gardeadjutant Kübler kauerte zwischen den Felsen und blickte hinunter zu der Stelle, wo die Ordenssoldaten vor einer Lawine geflohen waren, die es in Wahrheit nie gegeben hatte.
»Die sind gelaufen wie die Hasen! Fragt sich nur, wann sie den Trick durchschauen. Noch mal werden sie nicht darauf reinfallen. Was machen wir dann?«
Lucius sah den Schweizer an und antwortete: »Sie werden Elena und Francesco fortbringen. Enrico und ich bleiben hier. Wir werden Totus Tuus eine Weile beschäftigen, um Ihnen einen Vorsprung zu verschaffen. Danach werden wir uns ergeben. Wir beide sind es, die der Ordensgeneral eigentlich haben will.«
»Er-ge-ben?« Kübler sah den Papst fassungslos an. »Verzeihung, Heiliger Vater, aber das kann nicht Ihr Ernst sein!«
»Doch, das ist es«, versicherte Lucius. »Wir sind zu der Erkenntnis gelangt, daß wir die Pläne des Ordens am besten durchkreuzen, wenn wir zum Schein auf das eingehen, was Tommasio von uns verlangt.«
»Das kann ich nicht zulassen«, sagte der Gardist mit vor Erregung bebender Stimme. »Ich habe geschworen, Sie nötigenfalls unter Hingabe meines Lebens zu schützen, Eure Heiligkeit. Noch einmal lasse ich Sie nicht im Stich!«
»Sie haben mich auch gestern nicht im Stich gelassen, sondern bis zum Äußersten gegen eine unüberwindliche Übermacht gekämpft. Aber der Kampf mit der Schußwaffe ist das eine – Enrico und ich haben uns für eine andere Art des Kampfes entschieden.«
»Ich verstehe nicht ganz, was Sie sagen, Heiliger Vater. Aber eins weiß ich genau: Ich werde Sie nicht allein lassen. Mein Leben gehört Ihnen!«
Kübler fiel vor Lucius auf die Knie und neigte
demütig das Haupt.
Lucius legte die rechte Hand auf den Kopf des Mannes. »Sie sind ein
tapferer Soldat, und gerade deshalb bin ich froh, Elena und
Francesco Ihrer Obhut anvertrauen zu können. Es muß sein, Adjutant
Kübler, Sie müssen sich um die beiden kümmern. Ich bitte Sie darum,
mein Sohn. Oder wollen Sie von mir verlangen, daß ich es Ihnen
befehle?«
Stumm schüttelte Kübler den Kopf.
Elena trat zu Enrico und fragte: »Was hat das alles zu bedeuten?
Was habt ihr vor, dein Vater und du?«
»Wir kehren zu Tommasio zurück und helfen ihm, das Engelsfeuer zu
entfachen.«
»Und was ist dabei der Clou?«
»Stärker zu sein als Luzifer und seine Vasallen.«
»Das klingt nach einem sehr riskanten Spiel«, stellte Elena besorgt
fest.
»Es ist riskant, aber vielleicht der einzige Weg, Tommasios Pläne
endgültig zu durchkreuzen. Er scheint auf jemanden zu warten, der
ihm helfen wird, die gestürzten Engel in unsere Welt zurückzuholen.
Dieser Jemand ist offenbar sehr stark, möglicherweise so stark, daß
Tommasio und er das Engelsfeuer auch ohne meinen Vater und mich
entfachen können.« Enrico sah zu Lucius hinüber. »Es ist besser,
wenn wir beide zum Tempel der Ahnen zurückkehren.« »Aber wir werden
uns doch wiedersehen?«
Enrico senkte seinen Blick in ihren. »Zwing mich jetzt nicht, dich
anzulügen, Elena!«
Tränen schossen in ihre Augen. Sie umschlang ihn mit beiden Armen
und drückte ihn fest an sich.
»Ich wünsche dir Glück, Enrico. Du bist ein guter Freund und ein
tapferer Mann!«
Kübler war zu Giuseppes Leiche gegangen und kehrte mit reicher
Beute zurück: einer Maschinenpistole, einer automatischen Pistole
und Ersatzmunition. Die Automatik drückte er Enrico in die Hand,
und dann verabschiedeten seine Schutzbefohlenen und er
sich.
Enrico blickte den drei kleiner werdenden Gestalten noch nach, als
sein Vater sagte: »Da unten kommen sie zurück. Sie haben wohl
gemerkt, daß unsere Lawine nur ein Hirngespinst war. Kübler hatte
recht, noch einmal werden sie kaum darauf hereinfallen.«
»Dann versuchen wir es hiermit«, sagte Enrico, legte Giuseppes
Automatik an und zielte auf die in breiter Kette anrückenden
Ordenssoldaten.
»Gut. Aber sieh zu, daß du niemanden tötest!«
»Ich mache ihnen nur ein wenig Angst«, versprach Enrico und gab den
ersten Schuß ab.
Die Kugel fauchte dicht vor einem der Totus-TuusMänner gegen einen
Felsblock, und der Mann warf sich augenblicklich flach zu Boden.
Seine Begleiter taten es ihm nach oder suchten hinter Bäumen und
größeren Felsen Deckung.
»Sie warten auf die nächste Kugel«, sagte Lucius.
»Dann sollen sie warten.« Enrico wunderte sich über seine
Gelassenheit. Jetzt, da die Entscheidung gefallen war, fühlte er
sich seltsam ruhig. Der Weg war vorgezeichnet, schon seit
zweitausend Jahren, sein Vater und er mußten ihm nur folgen. »Je
länger es dauert, desto größer ist die Chance für Elena, Francesco
und Kübler zu entkommen.«